Montag, 8. Oktober 2012
Kein OB für alle
Stuttgart hat gewählt, hat aber noch keine Wahl getroffen. Stuttgart wird wohl den ersten grünen Oberbürgermeister seiner Geschichte bekommen. Stuttgart wird keinen Oberbürgermeister bekommen, der wirklich über die eigene Wählerschicht hinaus große Akzeptanz erlangen wird. Und Stuttgart wird nach dem quälenden Streit über den neuen Tiefbahnhof weiter gespalten bleiben. Das sind die Lehren des Wahlkampfs, noch ehe die Stichwahl am 21. Oktober den endgültigen Sieger hervorbringt.

Fritz Kuhn wirkt blass, erst als rund zwei Wochen vor der Wahl Sebastian Turner hinter ihm liegt, entspannt er sich, wirkt von nun an forscher in Interviews, siegessicherer. Seit dem Wahlabend strotzt er im Glauben an den Sieg vor Selbstvertrauen. Dabei strahlt er das Gegenteil davon aus, was er vorgibt zu sein: bescheiden. Zuvor wirkte sein Wahlkampf schön poliert – Fritz Kuhn hat die schönsten Plakate der vier erfolgreichsten Kandidaten – aber nicht sehr konkret in Bezug auf Inhalte. Was gemacht werden muss glaubt er zu wissen, aber wie er das machen will, lässt Kuhn in diesem Wahlkampf meist offen. Da sein stärkster Rivale Sebastian Turner inhaltlich ebenfalls nicht sehr in die Tiefe ging, spielt das für Kuhn keine Rolle. Im Gegenteil. Da er sich inhaltlich nicht zu sehr in die Tiefe wagt, kann er mehr Themen abdecken.

Soziale Fragen etwa lässt Turner – warum auch immer – zumindest, wenn er öffentlich spricht, komplett aus. Der „Werbefachmann“ (Anführungszeichen, weil sowohl die Plakate als auch Turners Begegnungen mit Bürgern blass bleiben). Turner konzentriert sich auf Wirtschaft und Arbeitsplätze, von denen er wisse, wie man sie schaffen kann. Und das ist zu wenig in einer Stadt, in der ein OB mutmaßlich viel weniger Einfluss auf die mächtige Wirtschaft haben dürfte, als es ihm lieb ist. Stadtplanerische Gedanken, die bezahlbaren Wohnraum und Kultur noch mehr in bestehende und vor allem noch zu bauende Quartiere einbaut, hat Turner nicht. Seine Ausführungen klingen fast weltfremd, wenn er immer und immer wieder die Themen Wirtschaft und Arbeitsplätze bemüht, so als ob Stuttgart in diesen Bereichen die höchsten Defizite hätte. Dabei schauen andere Städte in Deutschland eher neidisch als von oben herab auf die wirtschaftliche Situation am Neckar. Vielleicht ist Turner zu spät nach Stuttgart zurückgekehrt, um zu begreifen, wie diese Stadt wirklich tickt. Die Voraussetzung war mit CDU, FDP und FW im Rücken nicht schlecht. Dass er in der Schlussphase bis zur Stichwahl auch mit S 21 weiter Stimmen fangen will, zeigt das besonders. Man fragt sich, wo der Werbefachmann in Turner steckt. Vielleicht war Turner zu lang in Berlin. Dort wird der Schwabe auch ganz gern auf „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ reduziert, als ob das soziale Leben dem Schwaben fremd wäre, solange er nur genügend Geld hat.

Daher ist der Ansatz von Bettina Wilhelm in den Augen vieler Menschen richtig und sympathisch. Die Diplom-Pädagogin sagt ganz konkret wie sie beispielsweise mehr Kita-Plätze schaffen will (dem Vernehmen nach fehlen davon in der Stadt Stuttgart 5000!), sagt wie sie sich für bezahlbaren Wohnraum stark machen will und hat trotzdem ein offenes Ohr für die Wirtschaft. Aber Wilhelm hat ein Problem: Sie tritt für die SPD an. Das ist die Partei, die es in Stuttgart schon immer schwer hatte und es sich zudem in der Vergangenheit schon immer schwer gemacht hat. Das ist auch die Partei, in der sich auf Landesebene Fraktions- und Parteivorsitzender nicht immer grün sind und bei der sich die Köpfe der Landespartei gern um sich selbst drehen, statt für ihre Kandidatin in der Landeshauptstadt die Werbetrommel zu rühren. Ein weiterer Nachteil für Wilhelm: Sie führt einen braven Wahlkampf. Kuhn sagt ständig, was Turner falsch macht und was dieser in den Augen Kuhns alles nicht kann. Das tut Wilhelm nicht. Sie kämpft zu affirmativ für das, was sie für richtig hält. Im Clinch mit der Konkurrenz geht sie unter und fällt damit auch aus der Wahrnehmung vieler Stuttgarter. Was bleibt ist die Erinnerung an eine engagierte Kandidatin, die das schlechteste Ergebnis für die SPD holt. Eine Oberbürgermeisterin der (wenigen) Herzen.

Hannes Rockenbauch wird auch nach dieser Wahl die Stimme der hartnäckigsten S-21-Gegner bleiben. Als OB-Kandidat hat er einen engagierten Wahlkampf geführt und sich auch für soziale Themen jenseits der Schiene stark gemacht. Nur hat das niemand mitbekommen. Und: Rockenbauch ist zu jung und zu unerfahren in Fragen der Wirtschaft, um ein breiteres Wählerpublikum anzusprechen. Er wird aber weiterhin ein Gesicht dieser Stadt bleiben, weil der Streit um Stuttgart 21 auch mit dem neuen OB nicht beiseite gelegt werden kann.

Kuhn hat die grüne Partei hinter sich, Ministerpräsident Kretschmann macht Wahlkampf für ihn. Mit diesem Hintergrund wird er auch die Zerrissenheit der Partei in der Frage um S 21 ins Rathaus tragen. Im Herzen dagegen, auf dem Vertragspapier „kritisch begleitend“ das Projekt umsetzend, wird Kuhn von Anfang an Angriffsflächen bieten für CDU und SPD im Stadtrat, aber auch für die Wirtschaftsverbände und Firmen, die in Stuttgart ihren Sitz haben. Und viele Befürworter des Projekts werden argwöhnen: „Der Kuhn isch doch auch dagega, der soll net so scheiheilig doa.“ Die Gegner werden auf einen grünen OB Druck ausüben, es dem Projektmanagement um die Bahn so schwer wie möglich zu machen. Das Ergebnis ist ein Graben, der dauerhaft (tiefergelegt) die Stadt entzweit.

Keine gute Ausgangsposition für einen neuen OB.

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